Donnerstag, 30. Mai 2013

Fronleichnam

"Wenn je das Göttliche auf Erden erschien,
so war es in der Person Christi." (Johann Wolfgang von Goethe)

Wer mich kennt, weiß, dass ich Religion und allem, was mit ihr zusammenhängt, recht skeptisch gegenüberstehe. Aber heute - Fronleichnam - habe ich auch mal eins dieser kleinen Wunder erlebt, wovon ich im Folgenden berichten möchte.

Es begann damit, dass wir in Nordrhein-Westfalen heute einen Feiertag hatten, während andere brave Bürger weniger frommer oder frömmelnder Bundesländer wie Berlin oder Brandenburg heute arbeiten mussten. Dies bedeutet natürlich nicht, dass jeder Rheinländer sofort erklären könnte, was Fronleichnam eigentlich bedeutet und was genau da so dringend gefeiert werden muss, dass man an diesem Tag keine Erwerbsarbeit verrichten kann. Keine Sorge, wir müssen das hier nicht klären.

Ich jedenfalls beschloss also, die gewonnene Zeit zu nutzen, um meiner Heimatstadt Rheinberg am Niederrhein, wo ich schon seit 33 Jahren nicht mehr lebe, einen Kurzbesuch abzustatten.

Fronleichnamsprozession in Rheinberg

Kaum hatte ich die einstündige Fahrt hinter mich gebracht und war in die Rheinberger Innenstadt vorgedrungen, geriet ich in einen Fronleichnams-Umzug, der mich zwang, das Auto am Straßenrand abzustellen. An mir vorbei marschierte eine Prozession, die Außenstehenden vermutlich etwas merkwürdig vorkommen mag: Am Anfang der Prozession marschierten ausschließlich Männer [!], die vorderen sogar mit Zylinder [!], gefolgt von einem "überdachten" [!] Geistlichen, der so eine Art Pokal vor sich her trug. Erst dann folgte ein Gemisch aus Männern, Frauen und Kindern. Einige von ihnen schwenkten einen Behälter, der Weihrauchdampf über die gesamte Straße verteilte.
Da ich nun schon einmal in der Innenstadt war, beschloss ich, dort ein paar Fotos zu machen und spazierte rüber zum Marktplatz. Dort fiel mein Blick auf die offene Tür der katholischen Stadtkirche, die ich früher nie besichtigt hatte (ich wurde evangelisch getauft). Ich beschloss, einen Blick ins Innere zu riskieren.


Immer hineinspaziert!


Im Inneren der Kirche herrschte absolute Stille, alle waren anscheinend mit dem Umzug unterwegs. Es roch abermals stark nach Weihrauch, der Geruch begann langsam, sich in meiner Nase festzusetzen. Ich ließ den Blick wandern und stellte fest, dass diese Kirche, die ich meine gesamte Jugend über ignoriert hatte, eigentlich sehr schön war. Alles in ihr war geschmackvoll aufeinander abgestimmt, viele alte Gegenstände waren trefflich arrangiert, das Licht war angenehm, und auch von draußen drang kein Laut ins Innere.

Etwas besinnlicher gestimmt, beschloss ich, als nächstes zum Friedhof am Annaberg zu fahren, da dort einige meiner Jugendfreunde bestattet sind. Ich ging zurück zum Auto, legte eine Blues-CD ein und fuhr los.

Nach wenigen Metern war dann wieder Schluss, da die Prozession erneut meinen Weg kreuzte. Aus Lautsprechern drang "Halleluja!" und "Gott, der Himmel und Erde gemacht hat und uns Menschen nach seinem Ebenbild erschuf" an mein Ohr. Ich stellte den Motor aus - und John Lee Hooker etwas lauter.


Gottesdienst auf offener Straße


Nach fünf Minuten ging es weiter. Ich fuhr einen erzwungenen Umweg über die Bahnhofstraße und die Römerstraße zum Friedhof Annaberg, wo ich einen gut gefüllten Parkplatz vorfand. Beim Aussteigen sah ich vor der kleinen Kirche den Grund: Die katholische Gemeinde versammelte sich dort und hatte auch ein paar Zelte und Sitzbänke (offenbar für ein Kirchenfest) aufgebaut.

Man kann noch so kritisch gegenüber religiösen Gruppen eingestellt sein - beim Geruch von Grillfleisch bekomme ich Hunger. Allerdings schien dort noch ein Gottesdienst anzudauern, also betrat ich den Friedhof und ging zu den Gräbern einiger alter Freunde.
Mein Jugendfreund Michael ruht hier bis heute unter einer Eibe, die seit stattlichen 26 Jahren über seinem Grab wächst (er starb im Juli 1986 bei einem Motorradunfall). Mittlerweile ist das Bäumchen gut und gerne vier Meter hoch. Während ich mein Abitur machte, mein Studium genoss, heiratete, Kinder bekam, guten Rotwein trank, andere Länder bereiste, alt wurde, lag Michael hier unter der Erde. Der nette Freund, der oft ewig im Treppenhaus auf mich wartete, um mit mir über die Rheinberger Felder zu streifen. Sein Leben endete 1986, während meins weiterging.

Direkt hinter Michaels Grab fällt der Blick auf den Grabstein eines Freundes aus Kindergartentagen namens Volker (er starb 1985 als Beifahrer). Unsere Väter waren locker befreundet und ich erinnere mich noch an an die Bestürzung meines Vaters, als er einmal Volkers Vater anrief, um zu fragen, wie es denn so gehe - und Volkers Vater die Stimme versagte.

Vor Michaels Grab wurde offenbar Erde frisch aufgeschüttet - Fragen schossen mir durch den Kopf: Wer könnte dort liegen? Michaels Mutter? Vater? Sein kleiner Bruder gar? Oder eine unbekannte Person?
Ich schaute noch kurz um die Ecke zu einem der größten Grabsteine dort - seit den 80er Jahren ruht dort der sterbliche Überrest von Thomas, der ein paarmal auf meinen Kindergeburtstagen war. Thomas war Einzelkind, wie ich. Neues Auto, Unfall, tot.


Ehemalige Praxis meiner Kinderärztin in Rheinberg

Das reichte dann. Ich ging zurück zum Ausgang, kam aber noch an einigen Gräbern von Bekannten vorüber: Meine ehemalige Kinderärztin liegt in etwa heute dort, wo das Grab meiner Oma war, das wir in den 90ern aufgegeben haben. Die Kinderärztin ist dort zusammen mit ihrer Mutter begraben, die Jahrgang 1893 war. Ich kannte sie noch als uralte Dame. Sie hieß mit Vornamen Leopoldine und stammte wirklich aus einer anderen Epoche.

Schräg gegenüber fällt ein größerer Grabstein ins Auge. Dort ruht Herbert Reichel, seinerzeit Textilfabrikant und der eigentliche Grund, weshalb ich überhaupt in Rheinberg geboren wurde: Mein Vater bekam in Hamburg ein Stellenangebot in den damals aufstrebenden Reichel-Werken. Wir lebten in der so genannten Reichel-Siedlung, kauften im Reichel-Einkaufzentrum ein. Herbert Reichel ließ sich in den 70er Jahren ein riesiges Verwaltungsgebäude errichten (im Eingangsbereich hingen zwei Elchköpfe), Reichel flog mit dem Hubschrauber ein, war mit Walter Scheel befreundet, verteilte auf Weihnachtsfeiern Bücher über sich selbst an seine Mitarbeiter ("Der Mann und sein Werk"). Und dann starb Herbert Reichel plötzlich.

Kurioserweise ist Herbert Reichel auch gleichzeitig der Grund dafür, warum ich in Wermelskirchen und sonstwo mein weiteres Leben verbringen durfte - denn als er tot war, war auch seine Firma am Ende, und mein Vater verlor seine Arbeit. Er nahm an, was er mit seinen über 50 Jahren noch kriegen konnte, und so waren wir die längste Zeit Rheinberger gewesen und zogen ins Bergische Land.
Das Reichel-Verwaltungsgebäude diente noch eine Zeit lang als Art NATO-Headquarter am Niederrhein und wurde dann spektakulär gesprengt.

Ehemalige Reichel-Siedlung heute. In Haus vorne wohnte ganz oben
mein Jugendfreund Michael, in dem Haus hinten ich selbst mit meinen Eltern.


So, nun kommen wir mal langsam zu dem Wunder, das ich anfangs so schön angekündigt habe.

Hungrig kam ich also vom Friedhof. Gegenüber war mittlerweile ein Gottesdienst zu Ende gegangen und die Gemeindemitglieder verteilten sich auf den Sitzplätzen, ein Pfarrer erzählte etwas von Spenden, die er für eine Kletterwand aufzubringen gedachte.
Ich selbst hatte mich nebenbei bereits mit Nudelsalaten und ein wenig Grillfleisch versorgt, wofür ich abschließend eine Spende in die dafür bereitgestellte Box warf und das Gelände verließ.

Dort lief ich ihm in die Arme. Ein älterer Herr, vielleicht in den 70ern. Ich erkannte ihn sofort und sprach ihn an. Nie hätte ich gedacht, dass er noch lebte, er war einmal der vermutlich beste Freund meines Vaters gewesen, da er wie dieser aus Danzig stammte und ein hoch anständiger Mensch war. Der einzige Rheinberger Bekannte meiner Eltern, der 1987 zur Beerdigung meiner Mutter angereist war. Ich hatte sein Gesicht gut in Erinnerung - aber nach etwa drei Jahrzehnten hilft einem das ja auch nicht immer weiter. Einen Moment stutze er: Wer war der 2-Meter-Typ mit Bart und Lederjacke, der ihn da so spontan fragte, ob er Herr H. sei?
Doch kaum hatte ich mich zu erkennen gegeben, rief er laut aus: "Mein Gott Reinhard, das ist aber schön, wie groß du geworden bist!" und umarmte mich wie einen kleinen Jungen oder alten Freund. Wir sprachen noch eine halbe Stunde über seine Kinder und meine Familie und nahmen dann bewegt Abschied voneinander. Ich muss sagen, dass mir lange nicht mehr so etwas Rührendes passiert ist. DAS war ein kleines Wunder!

Zum Abschluss fuhr ich noch an den Rhein. Beim Blick auf den Fluss muss ich immer an die Worte in Hermann Hesses "Siddhartha" denken. Dort heißt es: "Zum Ziele strebte der Fluß, Siddhartha sah ihn eilen, den Fluß, der aus ihm und den Seinen und aus allen Menschen bestand, die er je gesehen hatte, alle die Wellen und Wasser eilten, leidend, Zielen zu, vielen Zielen, dem Wasserfall, dem See, der Stromschnelle, dem Meere, und alle Ziele wurden erreicht, und jedem folgte ein neues, und aus dem Wasser ward Dampf und stieg in den Himmel, ward Regen und stürzte aus dem Himmel herab, ward Quelle, ward Bach, ward Fluß, strebte aufs neue, floß aufs neue."


Der Rhein bei Rheinberg.


Amen.



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