Samstag, 9. Mai 2015

Die Mauer muss weg!

"Die Mauer wird auch noch in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben, ... blablabla" (Erich Honecker)

Auch wenn ich hier so langsam das Gefühl habe, meine Memoiren zu schreiben, - eins der tollsten Erlebnisse in meinem Leben war der Fall der Berliner Mauer - den ich live miterleben durfte! Das Wichtigste verschlief ich jedoch im wahrsten Sinne des Wortes.

9. November 1989, 19:00 Uhr.

"Vorwärts immer, rückwärts nimmer!" (Erich Honecker)

9. November 1989: Pressekonferenz - Günter Schabowski, Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK der SED, informiert im Internationalen Pressezentrum über Verlauf und Ergebnisse des zweiten Beratungstages des 10. Plenums des ZK der SED.
Bundesarchiv, Bild 183-1989-1109-030 / Lehmann, Thomas / CC-BY-SA [CC BY-SA 3.0 de (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)], via Wikimedia Commons


Als Günter Schabowski, Mitglied des DDR-Politbüros, auf seiner legendären Pressekonferenz, hastig einen Zettel verlesend, auf die Nachfrage eines Bild-Reporters „Wann tritt das in Kraft?" konfus stammelte: "Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich." - da hörte ich dies lediglich im Radio, während ich meine damalige Wohnung im West-Berliner Bezirk Reinickendorf gerade weiß tünchte. Falls jemand denkt, nur weil man belesen und an Geschichte interessiert sei, würde man in einer solchen Situation auch das historische Ausmaß einer solchen Nachricht sofort erfassen, so liegt man zumindest bei mir damit leider komplett falsch. Alles, was ich zunächst dachte, war: "Wird dann bestimmt voll am Wochenende" - und dann strich ich meine Tapeten munter weiter, während halb Ost-Berlin sich auf den Weg in den Westen machte. Einen Fernseher besaß ich damals nicht, da ich Fernsehen schon immer als nervigen Zeitfresser angesehen hatte, der einen Menschen seiner Kreativität beraubte und ihn immer mehr verblöden ließ, und so erreichten mich auch die bewegenden bewegten Bilder von Menschen an, vor, auf und hinter der Mauer an diesem Abend überhaupt nicht. Ich ging zeitig ins Bett und schlief entspannt ein.


Noch heute muss ich weinen, wenn ich diese Bilder sehe.

10. November 1989, morgens

"Take me to the magic of the moment
On a glory night
Where the children of tomorrow dream away
In the wind of change"
(Scorpions)


Am nächsten Tag stand ich früh auf und machte mich mit dem Bus auf den Weg nach Berlin-Spandau, wo ich als Lehramtsstudent ein Orientierungspraktikum an der Martin-Buber-Gesamtschule absolvierte. Der Bus fuhr lange durch ein reines Waldgebiet, aber auf den Straßen Reinickendorfs und Spandaus war alles wie gewohnt. Nichts deutete auf den Sturm der Geschichte hin, der über die Stadt und seine Bewohner hinweggebraust war, und ich erreichte die Schule, ohne auch nur bemerkt zu haben, dass die 28-jährige deutsche Teilung über Nacht im Grunde zu Ende gegangen war.

Unüberwindbar: Mauer in Berlin-Reinickendorf vor der Wende.


Eine chinesische Weisheit sagt "Wenn der Wind des Wandels weht, bauen die einen Schutzmauern, die anderen bauen Windmühlen." Die DDR hatte im August 1961 eine angebliche Schutzmauer, den so genannten "antifaschistischen Schutzwall", errichtet, um die Menschen ihres Staates daran zu hindern, in den Westen zu gehen, gegen die auch die schönsten Windmühlen der Welt nichts mehr bewirken konnten. Nach eine Phase der hitzigen Empörung und Aufregung und einer Beinahe-Atomkriegs-Eskalation in den 60ern sowie einer Phase der leichten Deeskalation in den 70er-Jahren hatte man sich in den 80er-Jahren im Westen mit der Mauer irgendwie abgefunden, ja, fast angefreundet, jedenfalls war das mein Eindruck. Im Sommer 1989 stand ich abends einmal ganz allein auf einer Aussichtstribüne am Brandenburger Tor und schaute mir die mit Scheinwerfern erleuchtete Trennlinie zwischen Ost und West in Ruhe an. Nach geraumer Zeit stieß ein älterer Mann zu mir, ein amerikanischer Tourist. Wir unterhielten uns. "Ist es nicht merkwürdig", fragte ich ihn, "dass ich der einzige Deutsche bin, der gerade hier rumsteht und sich fragt, wie absurd diese Mauer genau an dieser Stelle ist?" "Ja, das ist seltsam", antwortete er, "ich verstehe es eigentlich auch nicht. Vielleicht haben sich die Leute nach all der Zeit irgendwie daran gewöhnt." Ja, so war es wohl. Die Menschen hatten sich an die Mauer gewöhnt.

Ich aber nicht. Als ich die Mauer vor dem Brandenburger Tor 1985 zum ersten Mal von West- und auch Ost-Seite mit eigenen Augen sah, dachte ich "Das kann und darf nicht sein! Was für ein monströses Bauwerk, das die Menschen da drüben ihrer Freiheit beraubt!"

Ich selbst konnte natürlich jederzeit ungehindert ein- und ausreisen ins Feindesland DDR, und tat das auch. Gleich beim ersten Besuch in Ost-Berlin 1985 hatten mein Schulfreund Ralf und ich illegal West- gegen Ost-Geld getauscht und wären beinahe direkt ins Gefängnis gewandert. Wir durften das Ost-Geld dann nach einer ausgiebigen Beschimpfung durch einen Bankmitarbeiter im Kontrollpunkt Friedrichstraße bei der Staatsbank der DDR deponieren; ich reiste in den nächsten Tagen mutig nochmal ein und gab mein Geld - 50 Ost-Mark - sinnlos für irgendwelche tendenziösen Geschichtsbücher aus ("Der große vaterländische Krieg", "Erich Honecker: Reden und Aufsätze"), mein Schulfreund Ralf kam erst zwei Jahre später nach Ost-Berlin zurück - und musste sich anhören, das Geld sei nach einem Jahr zugunsten der Staatsbank der DDR leider "verfallen".

Hier war die Welt für Ossis zu Ende. Pariser Platz 1985. Im Hintergrund zu erkennen: die Mauer.

Ich traf pünktlich in Spandau ein, musste aber an der Schule feststellen, dass meine Anreise gänzlich sinnlos gewesen war. Am Eingang hing ein Zettel, auf dem zu lesen war, dass aufgrund der "besonderen historischen Ereignisse" die Schule ausfalle. Langsam dämmerte es auch mir.

Ich beschloss, zum "Kudamm" zu fahren, um mal zu schauen, wie die Lage so war. Mit der U-Bahn fuhr ich ein paar Stationen, stieg um und bewegte mich Richtung Bahnhof Zoo. Kaum fuhr die U-Bahn in den Bahnhof ein, brach die Hölle los. Staunende Menschen überall, der Kleidung nach - viel Jeans - Ost-Berliner. Ich erinnere mich noch genau an zwei Männer, die mir entgegen kamen. Einer sagte zum anderen: "Guck dir das an, diese Farben!" Ich fragte ihn: "Was ist mit den Farben?" Er antwortete: "Das ist alles so bunt, und es riecht auch total anders!" Ich stutzte. Das war mir zwar nie aufgefallen, aber ich verstand, was er empfand. Bei meiner ersten Einreise in den Osten hatte ich das auch gedacht, nur in negativ: miefiger Braunkohlegeruch, öliger Zweitaktergestank, blasse Menschen in gräulich-blauer Kleidung, unmoderne Autos, hässliche Laternen, vergammelte Altbauten, unmodernes Alles! Die DDR war ein Staat, der in jeder Hinsicht aus dem letzten Loch pfiff - technisch, modisch, wirtschaftlich.

Ich verließ den U-Bahnhof - und fand mich in riesigen Menschenmassen auf dem Breitscheidplatz wieder. Hier eine Warteschlange von Ost-Berlinern, die sich ihr "Begrüßungsgeld" in einer Bank abholen wollten (es gab für jeden DDR-Bürger 100 DM), dort herumziehende Staunende, hier West-Berliner, die mitfeierten und wildfremde Mitmenschen umarmten. 

Es war einfach schön, ein Fest der Freiheit! Das Wort des Tages: "Wahnsinn!" 

Ich genoss das noch ein Weilchen und beschloss dann, zum Brandenburger Tor zu fahren. Dort musste ebenfalls die Hölle los sein.

Brandenburger Tor, 10. November 1989, abends

"The winds of change are blowing hard in our direction, We can't go back and we can't stand still." (Mike Batt)

Ich weiß heute nicht mehr, wie ich dort hin kam, aber irgendwie habe ich es geschafft - und die Sonne schien auch noch. Ich stieß aus Richtung Siegessäule zum Brandenburger Tor vor - man konnte vor Menschen kaum einen Schritt gehen. Irgendwie gelangte ich zur Mauer, die am Brandenburger Tor ein wenig breiter war als im weiteren Verlauf rund um West-Berlin, so dass man bequem darauf herumspazieren konnte. Menschen saßen oben drauf und halfen anderen Menschen hoch. Ich ließ mich auch raufziehen und verbrachte dann den Rest des Abends bis drei Uhr nachts dort.

Unzählige Fotografen und Kamerateams turnten um einen herum, aber es war vor allem die friedliche, leicht aufgekratzte Stimmung, die mich in den Bann schlug. Niemand randalierte oder grölte rum - alle waren friedlich zu- und miteinander. Irgendwie hatte die Freiheit gesiegt, alle spürten, dies war gut, Menschen, die sich nicht im entferntesten kannten, nickten einander freundlich zu, jeder lächelte, manche wirkten regelrecht besinnlich. Ich setzte mich neben jemanden, der die Mauer von oben mit einem Hammer bearbeitete. Fast hätte ich versucht, ihn von seinem zerstörerischen Werk abzuhalten, es passte so gar nicht zur friedlichen Grundstimmung. Aber keine Frage: Diese Mauer musste weg! - und er war eben der erste, der hier auch persönlich mal Hand anlegte.

Mauer am Brandenburger Tor. Ich bin der Typ mit der sehr hellen Jeans. Quelle: Rheinische Post (Leider weiß ich nicht, wer der Fotograf war. Ich hoffe, er ist nicht böse, wenn ich es poste.)

Es wurde langsam dunkel, und da wir ja November hatten (den miesesten Monat von allen, gleich nach Januar), wurde es nun auch recht kalt. Dennoch dachte niemand daran, nach Hause zu gehen. Die Menschen vor, auf und auch hinter der Mauer wollten jede Sekunde auskosten. Ich hatte zwischenzeitlich eine Studienkollegin getroffen und wir spazierten in lockerer Gemeinsamkeit auf der Mauer herum.

Es war schon deutlich nach Mitternacht, als mir klar wurde, dass ich ja noch irgendwie nach Hause kommen musste, aber um nichts in der Welt wollte ich jetzt hier weg. So hielt ich noch drei Stunden lang aus, bevor ich wirklich am Ende meiner Kräfte war und (wie auch immer) nach Hause fuhr - ich habe keine Erinnerung mehr daran, wie ich das schaffte.

Kaum war ich weg, pusteten Wasserwerfer der DDR-Grenztruppen die letzten noch Verbliebenen von der Mauer.

Die folgenden Tage und Monate waren vollkommen irre. In Berlin konnte man quasi nicht mehr U-Bahn fahren. Es war, als würden der Papst, die Beatles und Elvis zusammen ein Konzert geben - überall waren die U-Bahnen so voll, dass man kaum mehr hinein kam; die Stadt füllte sich nach und nach auch noch mit unzähligen wissbegierigen Berlin-Besuchern aus aller Welt, was das Problem weiter verschärfte. Ich stieg regelmäßig aufs Fahrrad um. Und überall Weltpresse, Fernsehen, Reporter. Plötzlich war ein DDR-Wachturm am Reichstag weg, den ich gerade noch erklommen hatte. Irgendein Texaner hatte ihn gekauft und in die USA verfrachten lassen. Wahnsinn!

Ich war sehr froh, dass ich als Student damals Zeit im Überfluss hatte, und nutzte jede freie Minute, um zum Brandenburger Tor zurückzukehren. Ich hatte mittlerweile ein paar DDR-Grenzer auch persönlich kennen gelernt, sehr sympathische Jungs aus Sachsen, die hier ihren Wehrdienst ableisteten. Ich schenkte ihnen meine West-Tageszeitungen, sie fuhren mich mit dem Grenzer-Jeep (ein olivefarbener Trabbi) am Pariser Platz herum. Leider weiß ich nicht, was nach der Wende aus ihnen geworden ist, ich hoffe, sie haben einen erfolgreichen Weg eingeschlagen und sind im neuen wirtschaftlichen und politischen System glücklich geworden - ich hätte es ihnen jedenfalls von Herzen gegönnt. Wie sie mir sagten, gab es schon länger keinen Schießbefehl mehr für den Bereich am Brandenburger Tor - dort wusste sich die DDR zu sehr im Fokus der Weltöffentlichkeit und wollte keinen Imageverlust riskieren.


Auf der Berliner Mauer an der Bernauer Straße (heute Mauer-Gedenkstätte)

Natürlich gab es auch unsympathische Grenzer - einer nervte mich einmal am Potsdamer Platz, weil er unbedingt meine Pass sehen und abstempeln wollte, als die Mauer schon so löchrig war wie ein Schweizer Käse und alle Welt irgendwo rein- und rausspazierte aus der Deutschen Demokratischen Republik. Er meinte felsenfest, jedes "souveräne Land" hätte nun einmal Passkontrollen und konnte mit meinem Hinweis auf die EG-Staaten, wo es weder Pass- noch Ausweiskontrollen mehr gab, nichts anfangen. Später sah ich ihn mal bei der S-Bahn als Aufsicht. Die Mauer, die er einst bewachte, gibt es nun nicht mehr. Ich weine ihr keine Träne nach.

"Let them come to Berlin!" (John F. Kennedy)

Nirgendwo auf der Welt sollten Menschen durch Mauern voneinander getrennt sein. Und doch sind oft nicht die Mauern aus Beton das Problem - es sind die Mauern in den Köpfen der Menschen. Wenn man sogar ein Volk 28 Jahre lang so entzweien konnte, das sich doch zuvor so gemeinschaftlich als eins verstanden hatte - und jetzt zum Glück auch wieder versteht - was mag denn an anderen Orten der Welt helfen, Meschen wieder zueinander zu bringen, die einmal eins waren - statt sie zu trennen in Ost und West, in Nord und Süd, in Israeli und Palästinenser? John F. Kennedy sagte 1963 vor dem West-Berliner Rathaus Schöneberg: "Die Mauer schlägt nicht nur der Geschichte ins Gesicht, sie schlägt der Menschlichkeit ins Gesicht". Und genau so ist es.

Die Geschichte geht nie zu Ende - und leider siegt nicht immer nur das Gute. Doch hier in Berlin, hier hatte es einmal gesiegt! Es war wunderschön - und ich war live dabei.

Noch heute steht ein Stück Berliner Mauer auf meinem Schreibtisch - ich habe es selbst mit einem Hammer aus diesem Monster der Geschichte herausgetrümmert. Und immer, wenn ich es anschaue, denke ich an jenen Abend zurück - und höre im Geiste Menschen Schillers "Ode an die Freude" singen: "Alle Menschen werden Brüder, - wo dein sanfter Flügel weilt!"

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