Dienstag, 9. Juni 2015

Alt und Jung

"Die jungen Menschen von heute sollten gelegentlich daran denken, dass sie die alten Herrschaften von morgen sein werden." (Evelyn Waugh)


Kaum haben wir darüber nachgedacht, wie kurz das Leben ist und wie wichtig uns daher bedeutsame Augenblicke erscheinen, als wir auf diversen Musik-Konzerten daran erinnert wurden, dass unsere Gesellschaft Menschen in Jung und Alt unterteilt. Dabei handelt es sich eigentlich gar nicht um verschiedene Gruppen.

Der Jungbrunnen, 1546 gemalt von Lucas Cranach dem Älteren (seit 1553 tot)


Jung trifft Alt

"Das größte Übel der heutigen Jugend besteht darin, dass man nicht mehr dazugehört."
(Salvador Dali)

1987 zog ich als fast 20-jähriger Student nach Berlin (West). Um der anfänglichen Einsamkeit zu entrinnen, stürzte ich mich ins wilde Leben. Des Öfteren sah man mich mit 80er-Walkman (der mit den Cassetten, wohlgemerkt) den Kurfürstendamm entlang schlendern, und ein, zweimal kehrte ich sogar in eine dortige Diskothek namens "Big Eden" ein, die einem alternden Playboy namens Rolf Eden gehörte, der mit Beziehungen zu blutjungen Damen rumprotzte (in Edens Testament soll es eine Verfügung geben, wonach eine Frau 300.000 Euro aus seinem Vermögen erbt, sofern er beim Geschlechtsverkehr mit ihr stirbt).
Ich guckte dort, während die Stimme von Rick Astley "Never gonna give you up" trällerte, ein paar Fußballspiele auf einem großen Fernseher in einer Ecke. Um mich herum tanzten gleichaltrige junge Menschen und auch der eine oder andere alte Sack auf der Suche nach einem jungen Hüpfer. Mir waren diese alten Männer suspekt und ich fand sie reichlich peinlich. Die waren alt - was sollte das? Ich konzentrierte mich aufs Spiel und trank noch ein Bier. Gelegentlich linste ich natürlich auch mal zu den attraktiven Mädchen herüber.

In  Berlin-Reinickendorf, wo ich wohnte,  hatte ich einen 86-jährigen Nachbarn namens Alfried Schmalofsky. Herr Schmalofsky wohnte direkt unter mir im zweiten Stock. Er hatte weißes, streng nach hinten gescheiteltes Haar, eine Hakennase, einen kleinen Spitzbauch und stechend blaue Augen. Gebürtig stammte er aus einem östlichen Teil Brandenburgs, der heute zu Polen gehört. Da wir beide Bewohner eines unmodernen Berliner Altbaus waren, in dem statt einer Zentralheizung noch mit Kachelöfen geheizt wurde, mussten wir regelmäßig Kohlebriketts herauf- und volle Ascheeimer herunterschleppen, was mir mit meinen 20 Jahren noch einigermaßen leicht fiel, aber auch Herr Schmalofsky schaffte dies noch mühelos und hielt sich dadurch anscheinend körperlich fit, jedenfalls war er noch ausgesprochen rüstig. Auch geistig war er vollkommen auf der Höhe. Erst ein schwerer Auffahrunfall beförderte ihn dann einige Jahre später leider doch ins Grab.

Herr Schmalofsky hatte regelmäßig Besuch, und oft konnte ich nicht einschlafen, weil unter mir laute Wiener-Walzer-Klänge und erregte Stimmen ertönten. Dennoch mochten wir uns, und ich schätzte ihn zeit seines verbleibenden Lebens sehr.

Einmal lud mich Herr Schmalofsky zu sich ein, schenkte reichlich Bier und Schnaps aus (womit er nach eigenem Bekunden seinen Körper "gesund" hielt) und sagte: "Wissen Sie, Herr Schinka, warum ich Sie eingeladen habe? Ich hatte früher immer einen Grundsatz: Bis zum 50. Geburtstag umgib dich mit Älteren, von denen kannst du Dinge lernen, die dich voranbringen. Aber ab 50 - umgib dich mit Menschen, die jünger sind als du selbst, damit du geistig jung bleibst und nicht den Anschluss verlierst!"

Recht hatte er. Und ich halte es seitdem ähnlich, auch wenn der Abend bei Herrn Schmalofsky ("Hier, Herr Schinka, noch etwas ostpreußischer Bärenfang!") mit einem gigantischen Kater endete, jedenfalls für mich - Herrn Schmalofsky hingegen, dem ich am nächsten Tag im Treppenhaus begegnete, ging es blendend.


Alt trifft Jung

"Man wird alt, wenn die Leute anfangen zu sagen, dass man jung aussieht."
(Karl Dall)

Was sich seit dem Beisammensein mit Herrn Schmalofsky geändert hat - ich bin jetzt alt, jedenfalls bekam ich das in letzter Zeit öfter zu hören. Mit meinen 47 Jahren zähle ich jetzt anscheinend auch offiziell zum alten Eisen.

Als bei mir um die Ecke kürzlich eine Open-Air-Houseparty stattfand und ich zu den Klängen basswummernder Electro-Musik ein wenig rhythmisch mittanzen zu müssen glaubte, dauerte es keine fünf Minuten, bis ich von meiner 18-jährigen Tochter aus der Nachbarstadt eine wütende WhatsApp-Nachricht bekam, in der es sinngemäß hieß, ich sei ein peinlicher alter Sack und die "Housepark"-Veranstaltung sei eine Party für Jugendliche, auf der ich nicht das Geringste verloren hätte. Eine Freundin der Tochter - und bis vor kurzem meine Schülerin - hatte gepetzt: Einer der Nachteile, wenn man Berufsschullehrer in der kleinsten kreisfreien Großstadt Nordrhein-Westfalens ist. Man ist nirgendwo unbeobachtet - und die unangenehm berührten Kinder sind nur einen Klick entfernt. Offenbar hatte der französische Schauspieler Jean Gabin nicht ganz unrecht, als er sagte, beim Leben sei es wie im Film: "Man beginnt als jugendlicher Liebhaber, dann wird man Charakterdarsteller - und endet als komischer Alter."

Bedröppelt zog ich heim. Der Rat von Herrn Schmalofsky, den Kontakt zur Jugend zu halten, um nicht den Anschluss ans Leben zu verlieren, hatte ein schnelles Ende erfahren.
Aber mal abgesehen davon, dass ich mich nun also bald beerdigen lassen muss - gibt es denn für mich als "alten" Menschen überhaupt etwas, dass ich noch von jungen Menschen lernen könnte?

Und da gibt es in der Tat so vieles.

  • Ich habe von meinen Schülern gelernt, wie erfrischend ein Lachkrampf mitten im Unterricht sein kann - zumindest, wenn man noch ein Schüler ist.
  • Ich habe von meinen Schülern gelernt, dass Courage nichts mit Alter oder Bildungsgrad zu tun hat - oft sind junge Menschen viel mutiger als ältere.
  • Ich habe von meinen Schülern gelernt, dass große Talente in Schulen von Lehrern oft übersehen werden und doch immer wieder vorhanden sind - und oft erst auf Abschlussfeiern von uns Älteren erstaunt zur Kenntnis genommen werden.
  • Ich habe von meinen Schülern gelernt, dass das Erlernen einer oder mehrerer Sprachen für viele junge Menschen in unserem Land Alltag ist, während ich seit etwa 20 Jahren vergeblich versuche, mir Französisch beizubringen.
  • Ich habe von meinen Schülern gelernt, dass manche 19-jährige Schülerin schon weiser ist als manch 47-jähriger Lehrer.
  • Ich habe von meinen Schülern gelernt, dass man trotz Herkunft aus einem völlig kaputten sozialen Umfeld ein sehr netter und hilfsbereiter Mensch werden kann, der das Herz am rechten Fleck trägt.
  • Ich habe von meinen Schülern gelernt, dass die Jugend sich ihre Neugier bewahrt hat. Und das gibt mir Hoffnung, dass die Menschheit auch weiterhin die richtigen Fragen stellen wird - nach der Herkunft des Lebens, nach seinem Sinn und nach seiner Zukunft!

Die jungen Leute von heute sind die alten Menschen von morgen - sie wissen es nur noch nicht. Und die alten Menschen von heute - das sind die wilden Jungs und Mädchen von letztens.

Das Leben ist kurz - ab und zu sollte man sich das klar machen. Und milde auf Menschen anderen Alters schauen und dran denken: Auch die wollen Freude am Leben haben - und es ist ihr gutes Recht!

PS.: Letzten Sonntag trat bei mir um die Ecke eine Beatles-Cover-Band auf, Eintritt frei. Ich fand mich dort wieder unter nahezu ausschließlich 65-Jährigen und fühlte mich - jung! Die Musik war großartig, auch wenn ich Lieder der Beatles lange nicht mehr gehört hatte. "Die sind doch was für alte Leute", hatte ich viel zu lange gedacht. Dabei stimmt das gar nicht! Die Beatles sind toll - und sie sangen schon damals, als sie selbst noch kecke Jungs waren:

"Will you still need me, will you still feed me
When I'm sixty-four?"



In diesem Sinne: Bleiben Sie jung! Das Leben ist kurz.





"Life is short" - weiß auch dieses etwas drastische angelsächsische Werbevideo.

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Weblinks:

Gene für längeres, gesünderes Leben gefunden
https://www.ethz.ch/de/news-und-veranstaltungen/eth-news/news/2015/12/gene-fuer-gesundes-altern.html